10.06.2006
Es ist nicht zu übersehen, dass Schüler und Schülerinnen unserer Schulen mit ernsthaften Problemen zu kämpfen haben. Deshalb hat die Schulpflegschaft der Köllerholzschule in Bochum Dr. Selle zu einem Vortrag eingeladen zum Thema „Zur Entstehung von Suchterkrankungen“: Was ist mit unseren Kinder n los? Erfreulicherweise konnte Herr Rektor Vielhaber ca. 30 Väter und Mütter begrüßen, die sich über dieses Thema informieren wollten.
Wir danken Herrn Dr. Selle, dass er uns seinen weit gehend mündlich gehaltenen Vortrag nun in schriftlicher Form zur Verfügung gestellt hat.
Zur Entstehung von Suchterkrankungen
von Dr. med.Joachim Selle
Arzt f. Innere Medizin
Suchtmedizin
Befunde
• Ca. 2.5 Mio. Alkoholabhängige • Ca. 10 Mio Nikotinabhängige
• Ca.1.4 Mio Medikamentenabhängige
• Ca. 120 000 Abhängige von Drogen (= illegalisierten Substanzen)
• Ca. 50 000 Spielsüchtige und nicht Stoff gebundene Suchterkrankungen
II Definition
Sucht im Sinne der internationalen Klassifikationen der Erkrankungen wird als eine körperliche, seelische und soziale Folge des Gebrauches psychotroper (=die psychische Befindlichkeit betreffend) Substanzen verstanden. Der Gebrauch muss zwanghaft weitergeführt werden.
III Verbreitete psychotrope Substanzen und Süchte
· Legale psychotrope Substanzen: Alkohol und Tabak
· Illegale psychotrope Substanzen: Heroin, Kokain, THC (Haschisch), Amphetamine · Nicht Stoff gebundene Süchte: Spielsucht, Computersucht
IV Psychische und körperliche Wirkungen
· Nikotin und Alkohol haben einen beruhigenden Effekt. Tabak und Alkohol sind in jeder Menge und Art als schädlich (toxisch) für Körperorgane zu bewerten.
· Kokain und Amphetamine haben einen »aufputschenden« Effekt. Sie haben einen geringen toxischen Einfluss.
· Heroin (Opiate) und Haschisch (Cannabiol) sind unterschiedlich starke Beruhigungsmittel. Sie sind nicht als toxisch zu bewerten.
· Alle Substanzen bewirken nach längerem Gebrauch ein Entzugssyndrom.
V Sucht als Mittel zur Angstberuhigung · Nicht Stoff gebundene Suchterkrankungen wie Spiel-, Ess-, Mager-, Computersucht, wirken Angst beruhigend ohne Substanz.
· Auch selbst schädigendes Verhalten wie »Ritzen«, Zwänge wie Waschzwang können als Angst beruhigendes, süchtiges Verhalten angesehen werden.
· Alkohol- und Nikotinkonsum steigen bei schulischem Stress.
VI Ursachen
1. Tiefenpsychologisch-biografischer Ansatz Sucht ist oft der Ersatz für die fehlende oder gestörte frühkindliche emotionale Bindung an die Mutter oder die erste Bezugsperson. Anders formuliert:
· Emotionale Bindung meint eine Angst beruhigende, verlässliche Beziehung zwischen Kind und Erziehern.
· In den ersten Lebensjahren ist diese emotionale Bindung an die Mutter oder die erste Bezugsperson gestört gewesen. Das bewirkt eine lebenslängliche Störung der emotionalen Stabilität, des Selbstwertgefühls. Diese Störung versucht der Suchtkranke durch Einnahme von psychotropen Substanzen zu lindern.
2. Neurobiologische Ursachenketten • Suchtmittel verschiedener Substanzklassen, Opiate wie Heroin, THC= Haschisch, Nikotin, Alkohol bewirken im Gehirn die Freisetzung bestimmter Neurotransmitter- und Hormonsysteme.
• Damit geht eine Veränderung der psychischen Befindlichkeit einher.
Der vermehrte Bedarf führt bei vielen Suchtkranken zu einer eine Art Selbstmedikamentierung. An dieser Stelle müssen Krankheitsbilder aus dem ADHS Formenkreis(Aufmerksamkeitsdefizit/
Hyperaktivitäts Syndrom) erwähnt werden. Man nimmt heute an, dass hier
der chronische Mangel an Neurotransmittern beim Erwachsenen in die
Sucht führt. Interessanterweise ist man bis heute davon ausgegangen,
dass ADHHS mit dem 18. Geburtstag ausgeheilt sei. Medikamente zur
Behandlung dieser Erkrankung (Ritalin) sind nur bis zum 18. Lebensjahr
verordnungsfähig und unter die strenge Aufsicht der
Betäubungsmittelverordnung gestellt. Der Neurotransmittermangel bleibt
jedoch lebenslang bestehen.3. Genetische Ursachen Die Zwillingsforschung zeigt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen genetischer Ausstattung und Suchterkrankung. Sucht kann vererbt werden.
4. Ursachen im sozialen Umfeld Der systemische Ursachenansatz sucht die Suchtursache auch im sozialen Umfeld.
4.1. Ursachen im familiären Umfeld • ständige Spannungen und Disharmonie in der Familie
• Alkohol und Drogengebrauch von Eltern und Geschwistern
• Mangelnde Glaubwürdigkeit und Konsequenz in der Erziehung
• Familienbeziehung ohne Wärme, Verständnis und Akzeptanz • ernsthafte chronische psychische Störung eines Elternteils • Scheidung oder Trennung von einem Elternteil
• Erfahrung körperlichen und sexuellen Missbrauchs
4.2. Ursachen im sozialen Umfeld • Die Peer Group (Gruppe gleichaltriger Freunde) hat einen erheblichen Einfluss auf den Drogenkonsum Jugendlicher.
• Überforderung im Beruf und in der Schule
• Geringe nachbarliche Bindungen • Delinquenz (Straffälligkeit) im sozialen Umfeld
V II Konsequenzen für Eltern und Schule
1. Sich kompetent machen
• Bindungsforschung/ Neurobiologie
• Suchtpräventionsprogramme in der Schule
• Suchtprävention im Kinder garten
2. Regelmäßiger Austausch
• Pädagogischer Gesprächsrunden für Lehrer
• Pädagogischer Gesprächsrunden für Eltern
• Gemeinsame Eltern-Lehrer-Konferenzen
3. Persönliche Konsequenzen des Erziehers/ der Erzieherin
Z e i t h a b e n für den Aufbau des Selbstwertgefühls durch:
• Gemeinsame Mahlzeiten
• Verzicht auf ständige Medienberieselung
• Gespräche
• Zuhören/Fragen
• Mut machen
• In Krisensituationen beistehen, nicht verurteilen
• Grenzen setzen
• Die Würde des Kindes / Schülers, auch des schwierigen Schülers / der schwierigen Schülerin respektieren
Literaturempfehlungen
Gebauer, Karl / Hüther, Gerald, Kinder brauchen Wurzeln: Neue Perspektiven für eine gelingende Entwicklung. Düsseldorf 2001. (14,90 Euro)
Gebauer, Karl / Hüther, Kinder suchen Orientierung: Anregungen für eine sinn-stiftende Erziehung, Düsseldorf 2002. (16, 90 Euro)
Gebauer, Karl / Hüther, Kinder brauchen Vertrauen: Erfolgreiches Lernen durch starke Beziehungen, Düsseldorf 2004. (16 Euro)
Gebauer, Karl / Hüther, Neues vom Zappelphilipp. ADS: verstehen, vorbeugen und behandeln. Düsseldorf 2002. (14,90 Euro)
Wolfgang Bergmann, Das Drama des modernen Kindes: Hyperaktivität, Magersucht, Selbstverletzung, Düsseldorf 2003. (18 Euro)